„Der Intimbereich der Frau ist ein kulturell wie auch medizinisch sehr vernachlässigtes Organ“
H. Kolbe 1984
Eines der häufigsten Probleme, unter denen Frauen leiden, sind Beckenboden- und Harnblasenprobleme. Erst in jüngster Zeit hat die recht ansprechend gemachte Werbung für spezielle Slipeinlagen im Fernsehen dieses Thema aus der Tabuzone geholt. Zur Schande für uns Gynäkologen: Kaum ein Frauenarzt klärt seine Patientinnen präventiv über diese äußerst unangenehmen Lebensqualitätsbeeinträchtigungen auf – ein nicht nachvollzieh- bares, unprofessionelles Verhalten. Es erweckt fast den Eindruck, dass sich Arzt und Patientin gemeinsam über Harn- und Stuhlinkontinenz schämen. Warum eigentlich?
Zur Aufklärung eine Mini-Dosis Anatomie: Es besteht ein fundamentaler funktionaler Unterschied zwischen dem männlichen und dem weiblichen Beckenboden, dieser Schicht aus Muskulatur, Bindegewebe und Nervenfasern, die das Becken nach unten abschließt.
Straff wie ein Trampolin hält der Beckenboden normalerweise die Beckenorgane an Ort und Stelle, die Gebärmutter, die Scheide, die Blase, den Enddarm.
Im Verlauf der 9 Monate einer Schwangerschaft sorgen jedoch die Hormone dafür, dass sich die Bänder lockern und das Gewebe nachgiebiger wird. Während der Geburt nimmt dann das Köpfchen des Babys den gesamten Raum ein, verdrängt die Beckenbodenorgane der Entbindenden, überdehnt ihr Bindegewebe, die Muskeln, die Nerven. Der Beckenboden nach einer Schwangerschaft gleicht oft eher einer Hängematte als einem Trampolin.
Manchmal reißt auch der Damm, was den Beckenboden zusätzlich schwächt. Im Laufe der Evolution sind die Köpfe der Babys immer größer geworden im Verhältnis zum Beckenausgang der Entbindenden. Alle Evolutionsbiologen sind sich einig: In nicht allzu ferner Zukunft wird die Geburt eines menschlichen Babys nur noch per Kaiserschnitt möglich sein.
Was tun, um Beckenbodenprobleme zu vermeiden? Als Leserin und Leser meiner Kolumnen wissen Sie es: Nur Prävention hilft! Ab dem 20. Lebensjahr sollte jede Frau täglich 5 bis10 Minuten lang ihren Beckenboden trainieren – und das lebenslang. Diese Anspannungs- und Entspannungsübungen, um die Beckenbodenmuskulatur zu kräftigen, sind so einfach, dass sie nicht erlernt werden brauchen. Sie können sie z.B. – ohne Zeit zu verlieren – abends vor dem Fernseher oder vor dem Einschlafen durchführen und dabei auch noch meine Kolumne lesen.
Mit dem Beckenboden-Training können Frauen bereits ein bis drei Tage nach der Ent- bindung beginnen. Hilfreich sind auch individuell angepasste Pessare, Schalen, Würfel oder Ringe, die die Frauen selbst in die Vagina einführen können. Die besten Ergebnisse erreicht man mit dem Kegelbell-Kit-System – eine Art modernes „Fitness-Studio“ für den Becken- boden. Älteren Patientinnen empfehle ich, das nur 15 Minuten wöchentlich dauernde Training mit der vaginalen Applikation des Superhormons Östrogen zu kombinieren, ein Molekül, das imstande ist, den Beckenboden und die Blasenmuskulatur zu „verjüngen“, was zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität führt.
Bringen keine dieser Hilfsmittel Besserung, kann man durch einen operativen Eingriff Beschwerdefreiheit erreichen. Dabei geht es darum, das überdehnte Gewebe wieder zu straffen und die überdehnten Haltebänder zu kürzen. Ein Kunststoffnetz oder Schlingenband um die Harnröhre können unterstützend wirken.
Das Neueste: Daniel Eberli, Urologe am Universitätsspital in Zürich, entnimmt inkontinenten Patientinnen eine Gewebeprobe aus der Unterschenkelmuskulatur. Daraus züchtet er im Labor Stammzellen und spritzt sie über einen Katheter in das Gewebe, das die Harnröhre umgibt, um dort neue Muskelfasern heranwachsen zu lassen. Alle operierten Frauen sind nach dem kleinen Eingriff hoch zufrieden.
Abschließend noch eine amüsante Geschichte zu diesem Thema: In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe ich im Auftrag des Ministeriums für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit – damals noch in Bonn – die größte Frauenklinik in Togo (Westafrika), das CHU in der Hauptstadt Lomé mit 10.000 Entbindungen jährlich geleitet. Die Togoerinnen sind mit 3 bis 9 Kindern recht gebärfreudig. Was mir auffiel, war, dass manche Frauen gar keine Beckenbodenprobleme hatten, andere dagegen erhebliche – und das alles unabhängig von der Zahl ihrer Entbindungen.
Interessanterweise kamen alle Patientinnen ohne Beschwerden aus der selben Region im Norden Togos. In dieser Gegend war der damalige togoische Präsident Étienne Eyadéma aufgewachsen. Ich war mit ihm befreundet, da ich alle seine Kinder von vier offiziellen Ehefrauen und mehreren auffallend hübschen Nebenfrauen zur Welt gebracht hatte.
Ich begab mich also in diese Region – neugierig, was mich dort erwarten würde. Mit Hilfe einer Arzthelferin als Übersetzerin begann ich, die dort lebenden Frauen zu interviewen. Und meine Nachforschungen wurden belohnt: Nach unzähligen Gesprächen bekam ich heraus, dass die Teenager von alten, erfahrenen Frauen Unterricht bekamen, während des Sexual- aktes die Beckenboden-Muskulatur zu kontraktieren, um dem männlichen Partner mehr Spaß und sexuellen Genuss zu bereiten. Dass sie bei dieser nicht gerade unangenehmen Tätigkeit ihren Beckenboden optimal trainierten, war ihnen natürlich nicht bewusst.
Als damals meine afrikanischen Erfahrungen in einem deutschen Gynäkologie-Journal veröffentlicht wurden, erhielt ich massenweise Briefe von Kollegen (das Internet existierte noch nicht) so in dem Tonus: „Sie sexistischer Spinner, Ihnen hat wohl die Sonne Afrikas das Gehirn verbrannt.“
Zu meiner Genugtuung: heutzutage finden sich meine damaligen Erkenntnisse, die ich während meiner Tätigkeit in Togo sammeln konnte, in jedem Lehrbuch für Gynäkologie. Ich selbst habe immer noch Heimweh nach Afrika…
Ihr Dr. Hansheinrich KOLBE
Facharzt für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Präventionsmedizin