„WHATABOUTISMUS“

„Nur zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die Dummheit der Menschen – wobei ich mir beim Universum nicht so ganz sicher bin“. Albert Einstein, 1923

April 2023

Im Mai 1978 hatte ich das Glück, zauberhafte Frühlingstage in Rom genießen zu dürfen – begeistert von der Architektur der Antike, dem Flair der Ewigen Stadt und den Highlights der römischen Sterneküche. Die Begrüßung meiner Mutter, als ich zurück nach Deutschland kam, riss mich aus all meinen Träumen: „Du lebst ja noch! Man hat Dich nicht getötet?

Was war geschehen? Die Terrororganisation Rote Brigaden hatte Aldo Moro, einen Politiker der Democrazia Cristiana entführt. Er wurde am 9. Mai 1978 tot im Kofferraum eines roten Renault 4 in der Via Michelangelo Caeti gefunden – ermordet mit acht Schüssen.

Ich war an diesem Tag öfters an diesem Auto vorbeigelaufen, ohne etwas Auffälliges zu be- merken – während meines Rom-Aufenthaltes hatte ich weder die Presse noch das Fern- sehen verfolgt. In Old Germany war man über die Entführung des bekannten italienischen Politikers und die gefährlichen Unruhen in Rom stündlich informiert worden.

Warum erzähle ich Ihnen, meine lieben Leserinnen und Leser, diese ollen Kamellen? Nun, die Menschheit hat im 21. Jahrhundert ein Level erreicht wie nie zuvor. Aber: die Vertreter dieser bemerkenswerten Spezies machen sich mit geradezu verbohrter Leidenschaft ge- genseitig das Dasein zur Hölle. Etwas machen die Menschen noch leidenschaftlicher und noch erfindungsreicher: Sie arbeiten systematisch auf die Vernichtung ihrer eigenen Art hin.

Der Unterschied zwischen dem nicht informierten Heino von 1978 in Rom und der Menschheit im 21. Jahrhundert ist, dass wir heute tagtäglich durchs Internet, die Presse und das Fernsehen mit Erkenntnissen über die Zerstörung unserer Lebensgrundlage konfrontiert werden. Infos, denen niemand auf unserem Planeten entrinnen kann.

Unsere Reaktion darauf: Wir haben mittels kognitiver Tricks und einer Vernebelungstaktik mit Scheinargumenten ein System von Ablenkungsmechanismen aufgebaut – im Fachjargon „Whataboutismus“: ein Ablenken von den immensen Gefahren des Klimawandels, von den eigentlichen Problemen hin auf psychologisch wirksame Entlastungswege: „Das muss die Politik entscheiden – Ich brauche das SUV ja, um meine zwei Kinder zur Schule zu fahren – CO2 ist gar nicht so schlimm – Dann wird es für meine Kinder halt ein bisschen wärmer.“ Der Mensch denkt sich die Welt, wie sie ihm gefällt. In der Psychologie wird das als Bias oder kognitive Verzerrung bezeichnet. Womit wir direkt beim Whataboutismus gelandet sind: „Aber was machst du denn fürs Klima? Sparst du Ressourcen? Lebst du umweltbewusst?“

Dabei war es gar nicht „der Mensch“ als Spezies, der diesen vernichtenden Übergang ins sogenannte Anthropozän bewirkt hat; es war eine brandstifterische Elite von Politikern und interkontinental operierenden Handelsgesellschaften, die – vom Europa des 19. Jahrhunderts ausgehend, später von den USA – ein weltweites Netzwerk von nahezu irreversiblen Ener- gieabhängigkeiten geschaffen hat. Ein Schlüsselereignis war die geheime Begegnung des arabischen Fürsten Ibn Saud mit dem damaligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt an Bord der USS Quincy am 14. Februar 1945 im Suezkanal, bei welchem eine Art Teufelspakt für die kommenden fossilenergetisch-pyromanischen Jahrzehnte besiegelt wurde.

Nun zu den Zukunftsszenarien – welche werden Realität werden?

1. Den Menschen gelingt es, aus dem Zeitalter der Leugnung, des Zynismus und der kogni- tiven Dissonanz – dem Widerspruch zwischen Wissen und Verhalten – herauszukommen und sich als „Kinder Gaias“ zu verstehen lernen – als verantwortungsbewusste Bewohner der Critical Zone , das heißt des dünnen Vitalgürtels der Erde. Von der befehlenden, hyper- produzierenden und maßlos konsumierenden Wegwerfgesellschaft Abschied zu nehmen und Umwelt- und Ressourcenschonung zu praktizieren. „La fin de l’abondance“, wie es Emmanuel Macron in seiner aufsehenerregenden Rede am 24.August 2022 formulierte. Pseudolösungen wie etwa nach Neuseeland umzuziehen, in einer klimatisierten Welt unter Glas zu leben, wie es die happy few im Öl-Luxus Arabiens tun oder gar ins All zu emigrieren, sind da no go.

2. Die Menschheit reagiert erst in unmittelbarer Bedrohung kurz vor dem Final Countdown. In dieser Extremsituation gibt es zwei Möglichkeiten: a) Den Menschen gelingt es, sich und ihren Planeten zu retten. b) Die Grenzrisiken der „Kippelemente“ – die Permafrost-Zonen, die nordatlantische Zirkulation, die tropischen Regenwälder, die grönländischen und die ant- arktischen Eisschilde – sind bereits überschritten, der Point of no Return erreicht… dann ade „Paradies auf Erden“.

3. Der Verbrauch von flüssigen und gasförmigen Brennstoffen wird auch weiterhin unge- bremst den wachsenden Anforderungen eines blinden und gierigen Weltmarkt angepasst. Die Temperaturen steigen weiterhin, der Kongress tanzt… und der Homo sapiens stirbt aus.

Abschließend noch das, was mich persönlich seit längerem schockiert. Die zwei Haupt- problemfaktoren für die Zukunft auf unserem Planeten werden sowohl von den Politikern, als auch von den Medien nur äußerst selten bzw. gar nicht erwähnt geschweige denn angegangen.

Unser größtes und ernstestes Problem ist, dass die Erde mit über 8 Milliarden Menschen völlig überbevölkert ist. In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Weltbevölkerung vervierfacht! Die Höchstzahl an Menschen, die unser Planet verkraften könnte, liegt bei rund 5 Milliarden („Earth4All“-Initiative des Club of Rome). Problem Nr. zwei ist der Mangel an Süßwasser – er wird in den kommenden 10 Jahren extrem zunehmen. Bereits jetzt leiden 2.2 Milliarden Menschen unter Wassermangel.

Beide Probleme sind lösbar – wie, das werde ich Ihnen in meinen nächsten Kolumnen unterbreiten (Notfallplan des Club of Rome). Einzige Voraussetzung: Wir müssten heute mit der Problembewältigung beginnen – und nicht erst morgen oder übermorgen. Bisher ist in dieser Richtung aber noch viel zu wenig geschehen.

Nachtrag: Renommierte Weltraumexperten sind unter Zuhilfenahme des generativen KI- Systems ChatGPT-4 zu der der Meinung gelangt, dass bereits zahlreiche, technologisch hoch hochentwickelte extraterrestrische Zivilisationen untergegangen sind, weil sie sich selbst vernichtet haben.

P.S. Mein Dank geht an Prof. Peter Sloterdijk – er hat mir sehr interessante Anregungen zu dieser Kolumne gegeben.

Ihr Dr. med. Hansheinrich Kolbe

Facharzt für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Präventionsmedizin

www.frauenarzt-kolbe.de

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