DAS HÖHLENMENSCH-PRINZIP
„Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben Dinge tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen.” Adolph Freiherr Knigge 1788 in seinem Werk „Über den Umgang mit Menschen“
Ich räkele mich auf meiner bequemen Liege – vor mir der traumhafte Sandstrand. Das Meer glitzert, der Himmel ist sommerlich blau. In meinem Blickfeld: die weißen Marmorsäulen des hellenistischen Apollon-Tempels. Ein Strand, an dem sich schon Kleopatra, die letzte ägyptische Pharaonin, amüsiert haben soll. Wohlfühlen pur in Side an der südlichen Mittelmeerküste der Türkei – einer Stadt zum Verlieben.
Um mich herum husten Menschen – eine Form von Husten, aus dem das Bronchialkarzinom im fortgeschrittenen Stadium röchelt – so wirkt es jedenfalls auf mich. Ich bin umgeben von Feriengästen, deren Bäuche die Dimension 9. Schwangerschaftsmonat übertreffen. Noch nie habe ich an einem Ort so viele Menschen getroffen, die rauchen, stark übergewichtig sind und deutliche Anzeichen von Arthrose und Osteoporose aufweisen, Gesundheitsstörungen, die heutzutage mit relativ einfachen Mitteln leicht vermieden werden können. Ich schaue auf das am Horizont dahingleitende Segelboot und mache mir so meine Gedanken: Klar, hier läuft etwas gewaltig schief.
Nun, ich habe im Urlaub ja Zeit, darüber nachzudenken. Wir fliegen in ultramodernen Flugzeugen, fahren E-SUVs, rasen mit Ski-Jets übers Mittelmeer und starren non stop auf unsere Smartphones. O.K., wir gehören zur Gattung Homo s@piens des 21. Jahrhunderts.
Wir haben in den vergangenen 100.000 Jahren das Feuer gezähmt, das Rad erfunden, diverse Pyramiden gebaut und benutzen neuerdings sogar Quantencomputer. Aber unsere Wünsche, Träume und Begierden haben sich in den letzten 100.000 Jahren nicht geändert.
Nur: die Welt der Menschen in der Frühzeit war eine völlig andere. Hunger, Hitze, Kälte und Schmerzen waren für unsere Vorfahren an der Tagesordnung und die Aldis, Lidls und Edekas der Höhlenbewohner meist dürftig bestückt – oft sogar leer. Also musste man, wenn es etwas gab, alles in sich hineinstopfen.
Diese neuronalen Bahnen für die „schlechten“ Angewohnheiten unserer Vorfahren – die diese aber vor Gefahren einer feindlichen Umwelt schützten und ihnen das Überleben sicherten – sind im Gehirn des modernen Menschen immer noch tief eingegraben. Nur: sie sind in Zeiten des permanenten Kalorienüberschusses sinnlos geworden und bringen den Menschen des 21. Jahrhunderts leider lediglich gravierende Nachteile. Denn sie bremsen den gesunden Menschenverstand aus, den wir in unserem Zeitalter so dringend benötigen.
Jeder Mensch hat grundsätzlich das intellektuelle und emotionale Potential, einen gesunden und intelligenten Lifestyle zu praktizieren. Dem steht allerdings der Drang im Weg, alles Unangenehme und Unbequeme wegzuschieben. Den Kopf in den Sand (der türkischen Riviera) zu stecken und sich selbst vorzutäuschen, man lebe mit Marlboro und zuckersüßen Limonaden sehr gesund.
Der Mensch neigt nun mal dazu, nach diffusen, atavistischen Gefühlen zu handeln – im Widerspruch zu dem, was eigentlich vernünftig wäre, Stichwort: kognitive Dissonanz. Dies führt dazu, dass wir uns selbst betrügen. Der gesundheitsbewusste Genussraucher, der die Schockfotos, die verfaulten Zähne, die verkrebsten Lungen, auf Zigarettenschachteln sieht, kann nicht anders, als nach draußen zu flüchten und sich eine anzuzünden. Tatsächlich treffen wir nur eine Minderheit unserer Entscheidungen rational und überlegt. Gar zu gern laufen wir Trugbildern mit hypnotischer Wirkung nach.
Im Fehlschluss haben wir den Eindruck, dass uns Gewohnheiten das Leben erleichtern. Leider boomt da oft nicht gerade das, was für uns gut wäre – welch bizarre, ja schizophrene Logik: Im Zeitalter der Digitalmoderne mit der Informationsexplosion durch „X“, WhatsApp und Facebook scheint der gesunde Menschenverstand nicht mehr in zu sein. Und der bürokratische Wahnsinn, diese Überkomplexität im Kleinen, gibt uns den Rest.
Wie drückte es Forrest Gump aus: „Dumm ist der, der Dummes tut.“ Noch intellektueller hat es George Brassens formuliert: „Quand on est con, on est con“ – was nicht unbedingt über- setzt werden muss…
Ihr Dr. Hansheinrich Kolbe
Facharzt für Gynäkologie, Geburtshilfe und Präventionsmedizin
P.S.
Sonntag, 29. Oktober 2023
Die Türkei feiert heute ihr hundertjähriges Bestehen. Atatürk, der Gründervater und weltoffene Reformer, wollte einst die Zukunft erschließen. Erdogan dreht heute die Zeit wieder zurück.
Die Türkei steht in den deutschen Medien stark in der Kritik. Meine persönlichen Erfahrungen sind diametral anders. Nach zahlreichen Kontakten und Gesprächen mit Türken ganz verschiedener Berufssparten und Bildungsschichten hier meine Erfahrungen: Die Türkinnen und Türken, die ich kennengelernt habe, denken modern, versuchen elegant die Alltagsprobleme und Konflikte zu lösen, sind intelligent, höflich und humorvoll. Fast jeder in der Türkei hat Verwandte oder Freunde, die in Deutschland leben. Die Türkei und Deutschland sind sich näher, als es den Politikern auf beiden Seiten manchmal lieb ist.
Das berühmt-berüchtigte „Das geht nicht“, das mich in Deutschland tagtäglich privat und beruflich fürchterlich nervt, ist in der Türkei ein no go. Im Gegenteil: die gebildete türkische Mittelklasse bemüht sich intensiv um den Aufbau moderner Industrie und parallel dazu um die Optimierung der Landwirtschaft. Überall im Land findet man High-Tech-Treibhäuser, in denen appetitliche und gesunde Gemüse und Früchte das ganze Jahr über gedeihen. Die Waldregionen werden systematisch aufgeforstet, um das Klima zu verbessern. Wer in der Türkei heiraten will, muss ein Zertifikat vorweisen, dass er zwei Bäume gepflanzt hat! Türken gewinnen Nobelpreise und Millionen Touristen aus aller Welt kommen Jahr für Jahr an die Traumstrände und bewundern die Ausgrabungen historischer Städte. Wir Deutschen sollten uns ein Beispiel daran nehmen, wie man mit konstruktivem Denken und tatkräftigem Realisieren die Gegenwart und die Zukunft gestalten kann – und zwar in die positive Richtung.
Ab sofort können Sie meine Kolumnen in meiner neuen Homepage lesen www.frauenarzt-kolbe.de