„Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben
Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen.“
Adolph Freiherr Knigge 1788 in seinem Werk „Über den Umgang mit Menschen“
Januar, 2022
Ich denke häufig darüber nach, warum Menschen – unabhängig von ihrem Bildungsgrad und ihrer Intelligenz – sich gelegentlich unglaublich irrational, dumm und blöd benehmen, ohne dass man einen Anlass dafür erkennen kann. Der Fachausdruck für diesen nicht nachvollziehbaren Zustand, der entsteht, wenn Wissen und Verhalten nicht zueinander passen, ist „kognitive Dissonanz“.
Sie alle, meine lieben Leserinnen und Leser, kennen diese Situation, dass Menschen, die Sie schätzen und mögen – nicht selten angenehme, intelligente , gut unterrichtete Personen – Entscheidungen treffen, die für sie selbst bzw. für die Menschen in ihrer Umgebung nach- teilig bis grottenschlecht sind – ganz gleich, ob im privaten, gesundheitlichen, beruflichen oder politischen Bereich.
Erst vor kurzem habe ich für dieses eigenartige, bizarr unlogische Verhalten plausible Erklärungen gefunden – dank zweier hochintelligenter Zeitgenossen: Paul Bloom ist Psy- chologe an der Yale University in den USA und hat soeben ein Buch veröffentlicht: In „The SweetSpot. The Pleasuresof Suffering and the Search of Meaning“ („Auf den Punkt gebracht. Die Freuden des Leidens und die Suche nach dem Sinn“,sein Buch ist noch nicht ins Deutscheübersetzt) – widmet sich der Forscher der Frage, warum Menschen so oft das Negative im Leben – die Qual, die Anstrengung oder gar den Schmerz und das Kranksein – anstreben. Warum Marathon laufen, warum Berge besteigen, Kinder kriegen, Karrieren verfolgen und Herausforderungen suchen, wenn sich doch auch ein bequemes, an- genehmes Leben mit dem Sofa als Gravitationszentrum führen ließe?
Natürlich ist der Hype von der sinnstiftenden Bedeutung des Leidens ein alter Hut – spätestens seit Adam und Eva aus dem (vermutlich) quälend langweiligen Paradies ver- trieben wurden, um ihr Leben im Schweiße ihres Angesichts zu bestreiten.
„Sehr viele Leute glauben fälschlicherweise, dass Menschen geborene Hedonisten seien, die nur nach Spaß, Bequemlichkeit (siehe „Couch-Potato“) und Vergnügen streben“, sagt Bloom. „Da ist die Sache mit dem Schweiße im Angesicht doch die wesentlich spannendere Variante, als total uncool gelangweilt im Garten Eden herum zu lümmeln und sich die ewig gleichen Früchte in den Mund zu schieben – und das immer mit demselben Partner…“
Zu Michio Kaku, einem der bekanntesten Physiker und String-Theoretiker: Er legt dar – gestützt durch genetische und fossile Belege -, dass sich der moderne Mensch, in Bezug auf sein Gehirn, kaum von dem Homo sapiens unterscheidet, der vor mehr als 100.000 Jahren aus Afrika kam. Denn unsere Wünsche, Träume und Begierden haben sich in den letzten 100.000 Jahren nicht geändert.Nur: die Welt des Menschen in der Frühzeit war eine völlig andere als die der Industrienationen im 21. Jahrhundert: Hunger, Hitze, Kälte und Schmerzen waren für unsere Vorfahren an der Tagesordnung. Und die Aldis, Lidls und Edekas der Höhlenbewohner waren meist dürftig bestückt – oft sogar leer. Wenn ein Säbelzahntiger oder ein benachbarter Stamm in feindlicher Absicht angriff, ging es um Sein oder Nichtsein.Entweder man schlug dem Feind den Schädel ein oder die eigene Wirbelsäule wurde vom Angreifer zertrümmert. Facit: Gewalt war sinnvoll.
Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen sind erst seit der Renaissance völlig sinnlos und obsolet geworden. Unglaublich: ein Großteil der Menschheit hat es noch immer nicht kapiert!
Der Punkt ist, und das ist die Erklärung dafür, dass der Glaube an die Vernunft bei vielen Mitmenschen zurzeit so bröckelig ist und Verschwörungsmythen und Fake News immer öfters als Wahrheiten empfunden werden: Wann immer es zu Konflikten zwischen modernen Technologien und den atavistischen Denk- und Handlungsweisen unserer primitiven Vor- fahren kommt, gewinnen fast immer die negativen Emotionen wie Begierden, Miss- gunst, Eigennutz und Gier.Das ist das Höhlenmensch-Prinzip – typische Verhaltens- weisen, die charakteristisch für den Homo sapiens sind. Die neuronalen Bahnen für die „schlechten“ Angewohnheiten unserer Vorfahren – die diese aber vor den Gefahren einer feindlichen Umwelt schützten und ihnen das Überleben sicherten – sind auch im Gehirn des modernen Menschen immer noch tief eingegraben. Nur: sie sind sinnlos geworden und bringen den Menschen des 21. Jahrhunderts leider lediglich gravierende Nachteile.Denn siebremsenden gesunden Menschenverstand aus, den wir in unserem Zeitalter so dringend benötigen. Beispiel: Gordon Brown schreibt im „TheGuardian“ vom 21.Dezember 2021, dass die Staaten in Europa es in die Reihe kriegen, sich zu solidarisieren, wenn es um pandemische Finanzkrisen, also ums Portemonnaie, geht. Die Lösung pandemischer Gesundheitskrisen wird aber weder zentral über die EU bzw. noch global angegangen – was noch erfolgsversprechender wäre. Nebenbei zum Thema Brexit: Auch da boomt nicht gerade der gesunde Menschenverstand.
Eine Binsenwahrheit: starke Thesen – sie können noch so abstrus sein – funktionieren nun mal besser, als die mühsame Suche nach der Wahrheit.
Die bislang absurdeste Entfaltung menschlicher Fähigkeiten ist: Wir Menschen sind offenbar in der Lage und im Begriff, für ein Wohlsein in der Gegenwart die Selbstausrottung unserer Spezies in naher Zukunft in Kauf zu nehmen. Für mehr und schnellere Nutzeffekte vergiften wir unseren wunderschönen blauen Planeten und die Lebensqualität für die Generationen nach uns. Einerseits von Herdenimmunität zu reden, gleichzeitig aber die solidarische Verantwortung abzulehnen, die bedeutet, Teil einer Herde zu sein – das kann man mit Logik nicht verstehen!
KI-Experten stellen sich ernsthaft die Frage: Werden wir in 100 Jahren hinter Gitterstäben tanzen müssen, während Roboter, die wir konstruiert haben, uns Erdnüsse zuwerfen – wie wir heute den Affen im Zoo?
Wie drückte es Forrest Gump aus: „Dumm ist der, der Dummes tut.“ Noch intellektueller hat es George Brassens formuliert:„Quand on est con, on est con“ – was nicht unbedingt übersetzt werden muss.
Mit meinen besten Wünschen für ein angenehmes Neues Jahr – möglichst ohne kognitive Dissonanz.
Ihr hochinfektiöser Gesundheitserreger Dr. Hansheinrich Kolbe
Facharzt für Gynäkologie, Geburtshilfe und Präventionsmedizin
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