„Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“
– Der berühmte Arzt, Pathologe, Prähistoriker und Politiker Rudolf Virchow, 1848 –
Im April 2012 bin ich von einem bekannten Karlsruher Politiker, der profunde Erfahrung im Bereich Gesundheitswesen hat, interviewt worden. Das Thema wardamals: Die Probleme unseres Gesundheitssystems. Trotz gewaltiger Ausgaben – zusammen mit den US-Amerikanern und den Schweizern geben wir Deutschen am meisten Geld für unsere Gesundheit aus – nehmen wir beim Ranking der medizinischen Versorgung weltweit nur Platz 14 ein. Und was das effizienteste Gesundheitssystem (Leistungsfähigkeit, die alle Faktoren berücksichtigt) betrifft, liegen wir Deutschen auf einem beschämenden Rang 25 – ein wahrlich miserables Preis-Leistungsverhältnis. Ich schloss damals mit den Worten: „Wir sind mittendrin, in eine Fabrikmedizin, in eine Reparaturmedizin reinzurutschen. Ich habe das Gefühl, dass wir es uns auf dem Oberdeck der Titanic gemütlich gemacht haben und mit Champagner feiern – nur Rettungsboote: die gibt es nicht.“ Worauf mein Interview-Partner leicht pikiert erwiderte: „Ihre Vorhersagen sind recht kritisch. Ich bin beiweitem nicht so pessimistisch wie Sie.“
2014 habe ich – extrapolierend (ich erkläre dieses Wort weiter unten) von dem Ebola-Ausbruch im westafrikanischen Guinea ein Jahr zuvor – in meiner Oktober-Kolumne gewarnt, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze zu einer Virus-Pandemie kommen wird. Wortwörtlich habe ich damals geschrieben: „Springt ein Virus von Tieren auf den Menschen über (Zoonose) und mutiert, könnte diesesVirus sogar durch die Luft fliegen und der bloße Atem des Erkrankten ansteckend sein. Schluss mit dem pathologischen Strabismus. Statt an der drohenden Gefahr einer Virus-Pandemie vorbei zu schielen, sollten wir präventiv denken und präzise Verteidigungsstrategien im Vorhinein entwickeln.“
Meine Warnungen, was unser Gesundheitssystem und eine drohende Pandemie betraf, sind damals in die Kiste „effektheischende Angstmacherei“ gesteckt worden. Wie sehr sich meine Prognosen während der vergangenen Monate (leider!) bewahrheitet haben, ist Ihnen allen, meine lieben Leserinnen und Leser, bestens bekannt. Auch in Zukunft werden die warnenden Stimmen seriöser Wissenschaftler im Berliner Regierungsnebel verhallen… Habe ich hellseherische Fähigkeiten? Natürlich völliger Unsinn! Ich bediene mich nur einer Methode, die der französische Wirtschaftstheoretiker und Kulturphilosoph Jacques Attali 1977 entwickelt und seitdem ständig verfeinert hat. Attali – er hat unter anderem auch französischen Staatspräsidenten als Berater gedient – ist der intelligenteste Mensch, den ich kennen lernen durfte. Seine Methode besteht darin, Trends über den bereits bekannten und gesicherten Bereich hinaus zu extrapolieren – ähnlich wie dies bei einer Wettervorhersage geschieht. Mit einer bestimmten kognitiven Technik und berufsspezifischem Fachwissen kann manextrapolieren, d. h. Zukunftstendenzen präzise vorhersagen – eine Technik, die jeder mit einigen Jahren Training erlernen kann.
Genug Gestochere in der Vergangenheit – jetzt zu meinem Vorschlag, vom sturen Starren auf die Corona-Inzidenzwerte wegzukommen zu einer differenzierten, präzisen Betrachtung des Infektionsgeschehens und wie man dadurch die Zukunft besser gestalten könnte. Denn auch nach mehr als einem Jahr (gefühlt hundert Jahre) steuert Deutschland immer noch im Blindflug durch die Pandemie.Nur zur Erinnerung (siehe meine Kolumne vom Oktober 2020): Warum wird so selten empfohlen, unser Immunsystem präventiv zu stärken, dass uns dieses blöde, fiese, ultraprimitive Virus nichts anhaben kann? Wir sind doch in der Lage, dies mit recht einfachem, noch dazu preiswertem Aufwand zu erreichen, nämlich mit der Präventionsmedizin.
Wir alle erleben zur Zeit fassungslos das Strategie-Desaster der unerträglich lahmen Impf–Kampagne, die lebensfremde Wurstelei und die desaströsen Fehlentscheidungen unserer in der digitalen Steinzeit verhafteten Regierung. Die größte Gefahr geht längst nicht mehr von dem Virus selbst aus, sondern von dem fahrlässigen Umgang unserer unfähigen und hilflosen Politiker mit der Pandemie. Nie habe ich ein größeres Chaos in der Medizin erlebt.
Mein Lösungsvorschlag für dieses beschämende Dilemma: Nach dem Beispiel des „Club of Rome“ sollte ein überparteilicher „Club of Berlin“, ein Zusammenschluss von etwa 400 Experten verschiedener Disziplinen, ins Leben gerufen werden. Diese äußerst erfahrenen und kompetenten, hochintelligenten und zukunftsorientiertenFachleute sollten aus allen Bereichen unseres Lebens kommen: aus der Wirtschafts- und Politikwissenschaft, der Forschung, der Medizin und des Gesundheitswesens, der Kunst , der Kultur und Unterhal- tung, dem Ernährungs- und Gastronomiebereich, dem Handel und internationalen Touris- mus, der Informatik, Statistik und der künstlichen Intelligenz, der Altenpflege und der Erziehung. Nur diese Elite von Spezialisten wäre in der Lage, die Gegenwarts- und Zukunftsfragen und -probleme Deutschlands zu lösen und unser Leben wieder in normale Bahnen zu lenken. Zusätzliches Schmankerl: Diese kompetenten Frauen und Männer könnten auch die nächste drohende Katastrophe, die auf die Menschheit zurast, den Klimawandel, abmildern bzw. in den Griff bekommen.
Epidemien sind heute keine unkontrollierbaren Naturgewalten mehr wie die Seuchen im Mittelalter und die Spanische Grippe 1918; die Wissenschaft hat sie in Herausforderungen verwandelt, die sich bewältigen lassen. Im Kampf zwischen Mensch und Erreger sind wir Menschen heute so mächtig wie nie zuvor. Nur, Macht muss man koordiniert und intelligent einsetzen – zur Zeit eine absolute Fehlanzeige bei unseren Politikern. Sie feuern sogar das überall grassierende Pandemie-Burn-out weiter an, indem sie die Menschen mit gefaketen Statistiken verunsichern, statt sie zu beruhigen.
Die 400 „Weisen“ würden sofort starke Netzwerke zwischen Kliniken, Universitäten und Forschungsinstitutionen weltweit aufbauen, um die Corona-Forschung zu fokussieren und zu intensivieren. Und das stark gebeutelte „Made in Germany“ bekäme wieder seinen alten strahlenden Glanz. Natürlich sind nur eine globalkoordinierte Strategie und gemeinsame Pläne im Kampf gegen das Virus effizient; solange sich das Virus in irgendeinem Land ausbreitet, ist kein anderes Land sicher. Der Grund für die Kluft zwischen dem wissenschaft- lichen Erfolg und dem politischen Scheitern ist, dass Wissenschaftler es gewohnt sind, über Grenzen hinweg eng zusammenzuarbeiten, während Politiker, die vor allem parteipolitisch und national denken, sich lieber streiten.
Um akut Großes zu bewegen, ist es noch nicht zu spät. Wir müssen uns jetztaufstellen für die nächste, voraussichtlich noch viel tödlichere Pandemie: Covid-22 kommt sicher…
Ihr Dr. med. Hansheinrich Kolbe
Facharzt für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Präventionsmedizin