„Demokratie ist nie statisch, sondern befindet sich immer im Werden – eine kommende Demokratie.“ Jacques Derrida, französischer Philosoph.
12. Oktober 2022
Demokratie ist cool, wenn nicht gar die ideale Staatsform. So nach dem Motto „Herrschaft über das Volk, durch das Volk, für das Volk“. Soweit die gängige Meinung gemäß unserem westlichen Muster. Aber stimmt das noch im Jahr 2022? Immerhin leben fast 40 Prozent der Weltbevölkerung in Autokratien und der in Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelte Begriff der Demokratie hat kaum noch Ähnlichkeit mit der Demokratie von heute.
Seit drei Jahrzehnten schlafen wir im Westen auf einem Kopfkissen, auf dem gestickt steht: „Wohlstand und Innovation sind nur in freien Demokratien möglich“. Verschlafen haben wir, dass in diesem Zeitraum ein in zwei Teile gespaltenes, pseudodemokratisches Parteiensys- tem in den USA und ein China mit seinem Einparteienkonstrukt Wohlstand für ihre Bürger geschaffen und uns Europäer weltweit mit Innovationen en masse überholt haben. Verschlafen haben wir auch, einen Impfstoff gegen das Aussterben denkender Menschen zu entwickeln.
In unserer „Wünsch-dir-was-Demokratie“ist es politisch gewollt und opportun, dass wir Bürger unsere Aufmerksamkeit auf die oberflächlichen Dinge des Lebens richten: wir sollen lieber Dinge konsumieren, als uns für Dinge engagieren. Die deutsche Politik hat zurzeit weder einen präventiven, noch einen nachhaltigen Drive. Zusätzlich ist die Ver-drängungsbereitschaft in der deutschen Gesellschaft („ich will mich nicht damit aus-einandersetzen, was sich wirklich in der Welt abspielt“) extrem hoch. Das hat dazu geführt, dass wir einer Welt des demokratisch-intellektuellen Nirwanas und unausgegorener Widersprüche leben, die nicht erkannt und von unseren Politikern mit einer anästhesistischen Besänftigung auf der Basis von Fehldiagnosen behandelt werden. Nur ein Beispiel: Die Energieversorgung Deutschlands, die bis zum heutigen Tag erschreckend amateurhaft gemanagt wird. Lieber investiert der Staat in teure Beraterverträge – nach dem Motto: „If you can’t convince ´em, confuse ´em“.
Wir stehen vor einem Clusterfuck, einem Riesendurcheinander.Die politische Stimmungs- lage zurzeit in Deutschland lässt sich am besten in einer Problembeschreibung zusammen- fassen, in der kluge Verhaltensmuster, vertraute Denkmuster und bewährte Vernunftmuster kaum noch gefragt sind. Wir sind einfach mütend (kein Schreibfehler, sondern ein Mix aus „müde“ und „wütend“).
Fundamentale Veränderungen sind im Gange, die das organisierte menschliche Leben auf unserem (noch) wunderschönen blauen Planeten beeinflussen. Unser Verschlafen der gegenwärtigen Probleme wird mit Sicherheit zunehmend zu antidemokratischen Bewegungen mit nationalistischer Flagge im Stil des italienischen Faschismus führen, wenn unsere Politiker weiterhin nur bewahren und verwalten, statt produktives Gestalten zu praktizieren.
Sie kennen mich, meine lieben Leserinnen und Leser: In jeder meiner Kolumnen folgen immer – nach meiner Kritik – konkrete Vorschläge für eine bessere Zukunft.Hier sind sie: Was wir jetzt dringend bräuchten, ist eine umfassende Umstrukturierung unseres gesamtenparteipolitischen Systems.Ideal wäre, dass unsere nicht mehr zeitgemäßen Parteien mit ihren labernden Politikern von professionellen Expertengremien abgelöst werden, von Menschen, die ihren Beruf von der Pike auf gelernt haben. Wir müssen diesen Mut zum Wechsel zu einer neuen Führungaufbringen, zu Fachleuten, die fähig sind, passende Betriebssysteme für unsere heutige Gesellschaft zu entwickeln, mit dem wir im technologischen Wettrennen global mithalten können. Wir brauchen echte Handlungshelden, mit intelligenten Fähigkeiten für die Aktivierung und Gestaltung unserer Zukunft. Das verstehe ich unter einer lebendigen Demokratie. Nur so können wir unsere in Jahrhunderten hunderten erkämpften Idealvorstellungen und Visionen bewahren und realisieren – die Basis für echten Humanismus.
Ein praktisches Beispiel: Die echte Lösung der Probleme im Bereich Energie und Klimawandel übernimmt ein Team von rund 1.000 Wissenschaftlern – Physiker, Geologen, Meteorologen, Ingenieure und Finanzexperten – mit fünf hochintelligenten, verantwortungs- bewussten CEOs im Führungsgremium. Diese erfahrenen Spezialisten hätten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die grauenhaften Fehlentscheidungen unserer Politiker der vergangenen 30 Jahren vermieden, die uns jetzt viele Milliarden kosten und die gewohnten Annehmlichkeiten des täglichen Lebens sehr bald erheblich schmälern werden.
Die Grundlage für diese neue Form von Politik ist eine Welt, in der es in Ordnung ist, unterschiedliche Meinungen zu vertreten, uns mit unseren Nachbarn in Europa freund- schaftlich zu verstehen und Vertrauen auf die unglaublich positive Kreativität der Künste und der wissenschaftlichen Forschung zu haben.
Wollen wir in Wohlstand und weltweitem Frieden leben, darf es nicht erneut dazu kommen, dass wir es uns die nächsten Jahrzehnte gemütlich machen und weiterhin die Zukunft verschlafen. Wenn wir es in Europa zu unseren Lebzeiten wegen unserer Bequemlichkeit, Naivität, Dummheit und fehlender Weitsicht nicht schaffen sollten, eine angenehme, neue Welt mit intelligenten, humanen Zukunftsvisionen zu schaffen, sollten wir wenigstens im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder daran denken, ihnen eine moderne, den Ansprüchen der Zeit gerechte Gesellschaftsform mit Zukunftskompetenz zu hinterlassen.
Ich hatte im Frühjahr 1955 das Glück, Konrad Adenauer im privaten Kreis kennen lernen zu dürfen – eine faszinierend beeindruckende Persönlichkeit. Nie werde ich vergessen, was er zu mir sagte: „Deiner Generation erteile ich die Aufgabe, ja die Verpflichtung, die Vereinigten Staaten von Europa zugründen.“ Hätten wir die visionären Ideen von ihm und Charles de Gaulle realisiert, könnte das freundschaftlich geeinte Europa heute ohne größere Probleme in eine umfassende Zukunftssicherheit schauen.
P.S. Soeben erfahre ich, dass die Europäische Union wegen der Herbsturlaube von fünf deutschen Ministern ins Trudeln geraten ist. Seit dem 24. Februar wütet in der Ukraine ein Krieg, der weltweit große Probleme ausgelöst hat. Der EU-Gipfel in Brüssel und das deutsch-französische Treffen in Fontainebleau mit den Zielen, gemeinsam Lösungen für diese verfahrene Situation zu finden, wurden wegen der Urlaube abgesagt. Besser als durch dieses unverständlich verstörende und egoistische Verhalten dieser fünf deutschen Politiker können die Thesen meiner Kolumne nicht unterstrichen werden.
Ihr zurzeit ziemlich frustrierter, aber denkinfizierter Dr. med. Hansheinrich Kolbe
Facharzt für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Präventionsmedizin
Ab sofort können Sie meine Kolumnen in meiner neuen Homepage lesen:
www.frauenarzt-kolbe.de